Eine Reise in kolumbianische Verhältnisse –
Der Fall des Luis Alfredo Garavito
Ein Bericht mit Interview
Wenn es nach einem Rechtsurteil in Kolumbien ginge, wird in wenigen Jahren ein Massenmörder auf freien Fuß gesetzt. Dieser Mann, der unter der Bevölkerung Kolumbiens den Spitznamen “el monstruo” trägt, hat nachgewiesener Maßen zwischen den Jahren 1992 und 1999 über 220 minderjährige Jungen im Alter von 8-13 Jahren misshandelt, vergewaltigt und ermordet. Er ist damit einer der größten bekannten sexuell motivierten Massenmörder der Geschichte. Übertroffen wird er wahrscheinlich nur von seinem Landsmann Pedro Alonso Lopez der in den 70er Jahren vermutlich weit über 300 junge Mädchen ermordete. Lopez wurde 1980 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt und nach nur 13 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Er lebt seitdem in Freiheit und ist untergetaucht.
Wie es im Fall Garavitos zu dieser extrem hohen Zahl an Opfern kommen konnte, kann u.a. die instabile Situation Kolumbiens beitragen: Schon seit vielen Jahrzehnten existiert in einigen Teilen des Landes keine kontinuierliche rechtsstaatliche Ordnung. Die Macht über das Staatsgebiet Kolumbiens muss sich der Staat mit verschiedenen illegalen, bewaffneten Gruppen teilen. Darunter sind vor allem die durch die immer wieder missglückten Friedensverhandlungen mit dem Staat bekannter gewordene Guerillaorganisationen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), die ELN (Ejercito de Liberacion Nacional), verschiedene Drogenkartelle sowie paramilitärische Gruppen wie die AUC (Autodefensas Unidas de Colombia).
Die Zahl der verschwundenen Kinder in Kolumbien ist hoch: Sie verlassen ihre zerrütteten Familien um in der Großstadt Arbeit zu finden oder werden gewaltsam von eben diesen bewaffneten Gruppen für deren Kampf rekrutiert.
Diese soziale Situation machte es Garavito leicht, unerkannt und ohne großes Aufsehen seine Verbrechen zu begehen. Er schlug sich als Gelegenheitsarbeiter und Straßenverkäufer durch, reiste umher und veränderte sein Äußeres häufig.
Einige Male lebte er unauffällig in nicht-sexuellen Beziehungen zu alleinerziehenden Müttern und übte seine Vaterrolle, wie später bekannt wurde, fürsorglich aus. Wenn er jedoch umher reiste, lockte Garavito seine Opfer mit Nahrung, Drogen oder Arbeit, bevor er sich an ihnen verging und sie daraufhin, oft alkoholisiert, ermordete. Nur eher zufällig wurde er 1999 festgenommen. Ein Passant hatte ihn bei einem Übergriff überrascht und den Vorfall gemeldet. Die Polizei leitete daraufhin eine Großfahndung ein und konnte ihn kurz darauf verhaften.
Schon nach kurzer Haftzeit kontaktierte Garavito,mit der Hilfe seines Anwalts und des Gefängnispriesters das Parlament und die katholische Kirche. Es gelang ihm, hohen Würdenträgern der Kirche und Politikern glaubhaft zu machen, er werde sich nach seiner Haftzeit für Kinder in Kolumbien einsetzen. Außerdem sei er zum Christianismus, einer in Südamerika sehr verbreiteten und mächtigen religiösen Gemeinschaft, übergetreten. Gott habe ihm seine Taten verziehen.
Einen weiteren geschickten Versuch eine frühere Haftentlassung zu bewirken, unternahm Garavito, indem er sich als schizophren erkrankt darstellte. Er sei von satanischen Stimmen besessen, die ihm die Morde befohlen hätten. Er habe keine Wahl gehabt, als ihnen zu folgen. Auch leide er an Erektionsproblemen und sei auf dem Wege impotent zu werden, wodurch in Zukunft von ihm keine Gefahr ausginge.
Garavito hat in seiner bisherigen Haftzeit lediglich ein einziges Interview gegeben, das ihm bei der Verwirklichung seiner Ziels – die Haftentlassung – so sehr schadete, dass er bis zum heutigen Zeitpunkt keines mehr geben sollte. Dieses Interview gab er im Jahr 2006 dem kolumbianischen Fernsehjournalisten Guillermo Prieto Larrotta, der es in einer sehr erfolgreichen Sendung über Garavito zeigte. Prieto Larrotta hatte darin mehrere Experten wie Psychologen und Staatsanwälte unter anderem nach Garavitos Gefährlichkeit befragt. Sie hatten diese vehement bejaht und dadurch Garavitos Ruf ruiniert.
Dem Autor ist es jedoch durch großes Bemühen gegenüber der kolumbianischen Gefängnisbehörde und gegenüber Garavito gelungen, ein weiteres Interview zu führen. Es fand in einem Hochsicherheitsgefängnis einer kolumbianischen Kleinstadt statt. Die Reise führte in einer kleinen zweimotorigen Maschine vom Andenplateau Bogotas hinunter in die Hitze der Llanos, im Osten Kolumbiens gelegenen riesigen Grasssteppen. Die Landepiste war eine große Wiese inmitten ärmlicher Siedlungen auf der bis kurz vor der Landung noch Jugendliche Fußball spielten. Der Flughafen bestand aus einer alten Wellblechhalle. Irgendwo am Ende der Stadt lag dann dieser riesige, rostende fast ruinenhafte Bau des Gefängnisses. Hinter mehreren Gefängnistüren saß Garavito in einer eigens für ihn gebauten Einzelzelle. Etwas verwahrlost und wirr, matt und zugleich ziemilich angespannt wirkte er. Er hatte bereits einige Jahren vollkommen isoliert in diesem kargen Raum gefesselt zugebracht.
Im Folgenden ein Auszug aus dem Gespräch mit Garavito:
Gabriel Loebell: “Herr Garavito, wie stehen Sie heute nach einigen Jahren zu ihren Taten?“
Luis Alfredo Garavito: “ Ich kann nur sagen, dass das, was passiert ist, mir sehr leid tut, das ich gut verstehe, dass ich hier jetzt sitze, dass ich verstanden habe dass ich Unrecht getan habe, dass mir aber auch aus meiner neuen Beziehung zu Gott heraus verziehen wurde und dass ich bereit bin mich für misshandelte Kinder einzusetzen. Das will ich unbedingt tun! Ich bitte die Menschen um Verzeihung über die ich solches Leid gebracht habe, die Gesellschaft der ich das angetan habe. Auch möchte ich Priester werden, egal für welche Kirche. So scheint mir, darin liegt eine große Chance das Geschehene wieder gut zu machen. Ich will alles wieder gut machen. Aber wissen Sie, was geschehen ist, ist geschehen, ich kann es auch nicht mehr rückgängig machen! Ich habe nun genug Zeit im Gefängnis verbracht um über meine Verbrechen nachzudenken und verdiene jetzt wieder freigelassen zu werden“.
G.L.: „Wie fühlen Sie sich hier, unter welchen Bedingungen leben Sie?“
L.A.G.: „Ich bin hier sehr einsam, wurde total isoliert weil ich ständig Morddrohungen bekomme. Man hat Angst mir könnten Mithäftlinge etwas antun, ich werde es hier nicht mehr sehr lange aushalten, wissen Sie, ich habe schon mehrmals versucht mir das Leben zu nehmen. Mein Zustand ist wirklich furchtbar. Ich werde häufig auf einen Stuhl fixiert um mich daran zu hindern mir wieder etwas anzutun.“
G.L.: „ Aus den Medien konnte man erfahren dass Sie wesentlich an der Aufklärung der Taten mitgewirkt haben?“
L.A.G.: „Ja mir lag sehr viel daran mitzuhelfen. Diese Verbrechen mussten aufgeklärt werden. Sehr geholfen dabei hat, dass ich mir die Mehrheit der Tatorte gut merken konnte, sie also den Ermittlern zeigen bzw. beschreiben konnte.
Nach Garavitos Inhaftierung war auch ein psychiatrisches Gutachten erstellt worden. In ihm wurde die volle Schuldfähigkeit festgestellt.
Trotz des den schwer gestörten Garavito für schuldeinsichtig erklärenden Gutachtens, lassen sich einige auf ihn zutreffende psychiatrische Diagnosen charakterisieren:
Offensichtlich ist Garavito wegen seiner minderjährigen Opfer pädophil. Auch spricht einiges für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung und eine ausgeprägten Sadismus.
Unter „Pädophilie“ wird ein emotionales und nicht immer ausschließlich sexuelles Hingezogenfühlen Erwachsener zu Minderjährigen verstanden. Pädophile leben ihre Sexualität trotz dieser zumeist als quälend empfundenen Impulse häufig nicht aus, weil sie von der moralischen und strafrechtlichen Sanktionierung ihrer Bedürfnisse wissen. Nur langsam tastet sich mancher an ein Kind heran, beobachtet es, bis in einigen Fällen seine Frustrationstoleranz schwindet und er, wie Garavito etwa, die Entführung eines Kindes plant. Wenige Pädophile werden aggressiv oder befriedigen ihre Bedürfnisse mit tatsächlichen sexuellen Handlungen. Sie suchen die Nähe zu Kindern, versuchen Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Meist geschieht dies manipulativ und die eigentlichen Motive verschleiernd. Zu brutalen Übergriffen wie im beschriebenen Fall kommt es nur selten und dann nur in Kombination mit anderen psychischen Störungen.
Was aber ist unter einer antisozialen Persönlichkeitsstörung oder auch Psychopathie zu verstehen?
Das Fehlen von Mitgefühl in Bezug auf die Empfindungen Anderer, das Missachten sozialer Regeln, das Fehlen jeglicher Angst als auch ein schwaches Selbstwertgefühl sind häufige Eigenschaften solcher Persönlichkeiten. Dieses schwache Selbstbewusstsein versuchte Garavito durch besonders machtbetontes, grausames Verhalten gegen Andere, auszugleichen. Zentral bei psychopathischen Menschen ist auch die Unfähigkeit für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen und stattdessen Andere dafür verantwortlich zu machen. Im Falle Garavitos könnten das die erfundenen Halluzinationen des Teufels sein, der ihn zu den Morden aufgefordert haben soll. Ein weiteres Beispiel wären auch seine andauernden Rechtfertigungen und Entschuldigungen, die durch die Misshandlungen an ihm selbst zustande gekommen seien.
Hinzu kommt noch starke Impulsivität, also eine häufig niedrige Schwelle für aggressives, gewalttätiges Verhalten. Wichtig bei dieser Art extremer Menschen ist auch eine Tendenz zur ständigen Manipulation Anderer. Antisoziale Persönlichkeiten machen von ihr ob ihrer meist überdurchschnittlichen Intelligenz oft Gebrauch. Ein Beispiel hierfür könnte Garavitos Fähigkeit sein, nicht nur Kinder zu überreden sondern auch Politiker und Geistliche von seiner Wandlung zu überzeugen.
Seine im Gespräch deutlich gewordene Angewohnheit, sein Gegenüber nicht zu Wort kommen zu lassen, ließe sich als sein Bedürfnis verstehen, Kontrolle über dieses auszuüben. Garavito versuchte durchgehend angsterfüllte Themen zu vermeiden. Auch schien er verhindern zu wollen, bei seiner manipulativen Strategie entlarvt zu werden. Er unterbrach seinen Redelauf, war plötzlich unkonzentriert, im nächsten Moment wieder unangenehm aufdringlich, nur oberflächlich interessiert, aufgesetzt charmant und darüber hinaus häufig gehetzt. Am auffälligsten aber war wohl die Routine und Selbstverständlichkeit, mit der er bereit war, über seine Verbrechen zu sprechen. Er mordete und setzte sich danach hin, um Mittag zu essen. Er schien seine Taten nicht nachvollziehen zu können, seine Empathie für das Empfinden Anderer fehlte vollkommen. All die von ihm immer wieder gezeigte Reue wirkte wie ein vorgefertigter Text, den er bei jeder Gelegenheit wiederholte. Es existierte keinerlei Reflektion über das Geschehene, was bei einem derart gestörten Menschen ohne langjährige Therapie ohnehin kaum vorstellbar ist. Niemals wäre auf den ersten Blick vorstellbar, dass hinter dieser flapsigen und wirren Kälte ein skrupellos kalkulierender Lustmörder steckt, der seine Opfer brutal fesselte, vergewaltigte, folterte, ihnen Gliedmassen abtrennte und die Kehle mit einem Messer durchschnitt.
Von Fachleuten wird angenommen, dass zur Entwicklung des Sadismus wesentlich die Unfähigkeit beiträgt, sexuelle Beziehungen zwischen der Pubertät und dem Alter von ca. 24 Jahren entwickeln zu können. Unter diesen Umständen können sich Phantasien von Sexualität mit denen von Aggression und Frustrationen mischen. Der Wunsch nach Machtausübung, Rache und Dominanz wächst. Diese Reaktionen können nun mit dem psychologischen und körperlichen Leid der Opfer in Beziehung treten. Der Täter gewinnt an Selbstwert und erfährt Lustgewinn durch das Leid seines Opfers.
Aber wie ging es denn nun weiter?
Auch wenn seitens der Staatsanwaltschaft schon Initiativen angelaufen sind, zuverhindern was bereits mit Pedro Alonso Lopez geschehen war, muss auch Garavito von den ursprünglich verhängten 40 Jahren Haft vermutlich nur 15 absitzen. Das würde heißen, dass er schon bald wieder frei käme.
Wie aber konnte es dazu kommen? Hier spielt die Tatsache eine Rolle, dass die Verurteilung Garavitos nicht durch einen Gerichtsprozess zustande kam, sondern durch die in Kolumbien bestehende Möglichkeit, wenn es die Beweislast zulässt, Personen außergerichtlich zu verurteilen.
Zu einer derartig kurzen Haftzeit kam es darüber hinaus, weil es gemäß des kolumbianischen Strafgesetzes nicht wie in den USA zu einer Addition der Haftzeiten durch mehrere begangene Straftaten kommen kann. Verurteilt werden kann man also für die jeweilig höchste Straftat, in Garavitos Fall zu Mord nur ein einziges Mal. Garavito ist somit wegen Mordes verurteilt worden, gleichgültig ob es sich um Mord oder wie in diesem Fall um Massenmord handelt. Außerdem kommen haftverkürzend seine gute Führung und seine Bereitschaft zur Mitarbeit an der Aufklärung der Morde hinzu. Garavito erinnerte sich in der Mehrheit der Fälle genau an Hergang der Morde, Tatorte und Verbleib der Leichenteile.
In Kolumbien wird nun heiß diskutiert wie zu verhindern ist, dass Garavito frühzeitig aus der Haft entlassen werden muss. Wichtig erscheint jedenfalls, dass er einen richtigen Prozess bekommt, daran gehindert wird suizidale Handlungen auszuführen und dass er vor fremder Gewalteinwirkung geschützt wird. Offensichtlich ist auch, dass er in Haft bleiben muss, da von ihm in Freiheit weiterhin erhebliche Gefahr ausgeht. Darüber hinaus steht ihm das Recht auf faire Haftbedingungen zu, als auch zu einer Therapie, zur professionell geführten Auseinandersetzung mit seinen Taten.