Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten; denn die einen geht er nicht an, und die anderen existieren nicht mehr. Epikur
Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: Stirb zur rechten Zeit.Friedrich Nietzsche
WARUM STERBEN UND NICHT VIEL LÄNGER LEBEN? Ein beschleunigter Aufriss.
Es spricht nicht allzu viel dafür, dass wir überhaupt sterben müssen. Für die Forschung sind potenziell unsterbliche Organismen bereits vorstellbar. Für uns heute lebende Menschen aber ist Sterben unausweichlich. Wir wissen durch das Verschwinden anderer, durch deren Tod, dass etwas extrem Bedrohliches passieren wird.
Wie weit ist die Biotechnologie, die daran forscht, unser Leben zu verlängern und dem Alterungsprozess entgegen zu wirken? Bei einer Umfrage unter den 60 bekanntesten Gerontologen gingen diese von einer durchschnittlichen Lebenserwartung eines 2100 geborenen Kindes von circa 300 Jahren aus. Die experimentellen Fortschritte der Anti-Aging-Forschung sind beachtenswert: Zu nennen sind die Gentechnik, bestimmte Typen von Diäten zur Verringerung freier Radikale, der Ersatz altersbedingt geschädigten Gewebes durch gezüchtete Zellen in der Stammzellentherapie und die Behandlung der Telomere, einer Endung jedes Chromosoms, an dem jene Gene vermutet werden, die das Lebensalter wesentlich durch das Fördern der Zellteilung auch nach dem „natürlichen“ Abklingen dieser Teilungen mitbestimmen. So konnte man beispielsweise das Leben von Fadenwürmern durch die Manipulation der Steuerung eines Gens bzw. des entsprechenden Zielmoleküls um ein Sechsfaches verlängern. Auch bei Mäusen ist es mit einer extremen Diät gelungen, deren Alter um bis zu 70 Prozent zu verlängern. Die Forschung am Potential von Diäten zur Lebensverlängerung arbeitet vor allem an der Reduzierung von Kalorien. Den größten Einfluss auf das Altern des Organismus haben die freien Radikale, eine Art Sauerstoffmolekül, das in der Nahrung und in der Atemluft enthalten ist. Sie greifen die Zelle an und zerstören sie beim Stoffwechsel. Anti-Oxidantien, die der Körper selbst produziert, zerstören einen Teil dieser freien Radikale. Sie sind in Vitaminen enthalten, können aber nicht genügend freie Radikale zerstören, um den Alterungsprozess zu stoppen. Der hier beschriebene „oxidative Stress“, die Abwehr aggressiver Sauerstoffe, verliert circa. ab dem 30. Lebensjahr an Kraft, die Schutz- und Reparaturprozesse der angegriffenen Zelle lassen in ihrer Wirkung nach. Kurz zu erwähnen sindauch das Hayflick-Phänomen und die Apoptose, aus denen weitere Theorien des Alterns hervorgegangen sind. Das Hayflick-Phänomen geht von einem genetischen Programm aus, welches die Zellteilung nach etwa 50 Teilungen stoppt. Das Phänomen der Apoptose ist ein Programm der Selbstzerstörung innerhalb der Zelle selbst.
Die potentielle Lebensspanne ist also ein genetisch kontrollierter Aspekt wie Körpergröße, Geschlecht und Augenfarbe; die Geheimnisse des Alterns und seiner Abwehr liegen vor allem in den Genen.
Wozu aber gibt es das Altern überhaupt? Evolutionsbiologen bestimmten Sterblichkeit keineswegs als notwendige Konsequenz unserer biologischen Systeme sondern als reines Nebenprodukt der Evolution, ja sogar als evolutiv sinnlos. „Altern ist für die Anpassung und evolutionäre Tauglichkeit etwa so wichtig wie Brustwarzen bei Männern, “ stellt der Altersforscher David Gems fest. Dazu auch der Bioethiker Arthur Caplan: “Altern existiert als eine Konsequenz eines Mangels an Vorhersicht: Es ist schlicht ein Nebenprodukt selektiver Kräfte, die darauf hinwirken, die Chancen für den Fortpflanzungserfolg zu erhöhen.” Eine andere Theorie versteht Altern als eine genetische Mutation, die jenseits der Reichweite des natürlichen Selektionsprozesses liegt, als eine immer tödlich verlaufende Erbkrankheit, gegen die die Selektion nichts auszurichten vermag. Wozu aber leben wir, wenn der Selektionsprozess abgeschlossen ist, noch weiter? Man könnte doch daraus schließen, dass wir eben circa 40 Jahre unseres Lebens nichts zu Fortpflanzung, Aufzucht oder Erhaltung der Art beitragen. Eine weitere Theorie versucht hier eine Erklärung zu liefern: Unsere Großmütter hätten über die Jahrtausende derart großen Einfluss auf das Überleben des Nachwuchses gehabt, dass wir deshalb evolutiv so alt werden können. Sind die Enkel alt genug, stirbt die Großmutter. Weiters ist die allgemeine Bedrohung von außen durch Feinde, Krankheiten etc. für viele der heute lebenden Menschen so gering geworden, dass sich, auch durch die Verbesserung der medizinischen und Nahrungsmittelversorgung, ein längeres Leben eingestellt hat.
In einem gewissen Gegensatz zur Genetik begründet man das Altern und Sterben physiologisch als Anhäufung zufällig bedingter Schäden zellulärer und molekularer Strukturen, die aufgrund evolutionärer Kapazitäten wie die des Immunsystems als auch anderer lebenserhaltenden Systeme immer weniger im Stande sind, diese Degenerationen abzuwehren. Die Forschung geht derzeit also weniger von einer genetischen Steuerung der Sterblichkeit aus, als vielmehr von einem komplexen, stochastischen Zusammenspiel zellulärer Degenerationen, die schlussendlich immer zum Tod führen.
Warum sollten wir aber überhaupt, so könnte man im Anschluss daran fragen, weiter nach den Ursachen vieler Krankheiten suchen, wenn die Mehrheit von ihnen durch nichts anderes als durch den Alterungsprozess hervorgerufen wird? Vor allem fortschreitendes Altern ist der einflussreichste Faktor bei der Entwicklung von Karzinomen, Degenerationen und Kreislauferkrankungen, die häufig tödlich enden. Wenn Altern und Sterblichkeit gerade diese biologische Verwandtschaft zu Krankheiten wie Krebs aufweisen, dann würde doch daraus geradezu das Gebot resultieren, Sterblichkeit überhaupt zu bekämpfen. Noch weiter geht der Bioethiker John Harris. Er beschreibt Lebensverlängerung und sogar „virtuelle Unsterblichkeit“ als Lebensrettung und daher als moralisch dringend geboten.
Doch kann eine Lebensverlängerung nur dann von Vorteil sein, wenn einige negative Konsequenzen der bereits ermöglichten Lebensverlängerungen, etwa die Zunahme von Degenerationen, verhindert werden würde. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenzen zu erkranken, nimmt ab einem Alter von 70 Jahren um 50 Prozent zu. Durch ein erfolgreiches Enhancement blieben ältere Menschen weit jenseits der 70 kognitiv leistungs- und arbeitsfähig und sogar zur Fortpflanzung im Stande. Eine mögliche positive Folge davon könnte zum einen in der Minderung des Nachwuchsproblems in überalterten Gesellschaften und zum anderen in der Verringerung der Kosten für die zunehmende Zahl an Rentenbeziehern und deren Unterbringung und Pflege gesehen werden. Es gäbe keinen festen Verrentungszeitpunkt mehr, der vielmehr von der jeweiligen Gesundheit und Motivation, sich zu enhancen, abhinge. Auch gäbe es mehr Zeit, sich verschiedenen Wünschen und Interessen hinzugeben, wie etwa die Philosophin Christine Overall glaubt: “Viele Menschen, vielleicht die große Mehrheit, haben niemals die Chance, all ihre Potenziale als physische, emotionale, moralische und intellektuelle Wesen zu entfalten und auszudrücken. Ein verlängertes Leben würde zumindest einige dieser verpassten Chancen bieten.”
Was aber wären die möglichen negativen Folgen einer Gesellschaft mit einem sehr hohen Anteil an älteren Menschen? Wäre Innovationsfeindlichkeit und Konservativismus zu befürchten? Würden jüngere Menschen, die in den reicheren Ländern immer weniger würden, sich mit ihren Interessen nicht mehr durchsetzen können? Und wäre ein Großteil der Erdbevölkerung angesichts einer sowieso schon global auseinander klaffenden Lebenserwartung nicht weiterhin zum „normalen Sterben“ verdammt? Eine mögliche Konsequenz aus verlängerten Leidensphasen oder der Verschlechterung der Lebensqualität durch Lebensverlängerungsenhancements wäre es, wenn es z.B. zu einer extremen Verstärkung gesellschaftlicher Trends wie der Überidealisierung von Jugendlichkeit käme. Nicht weniger absurd erscheint es aber auch, die Entwicklung hin zu lebensverlängerndem Enhancement etwa durch Festlegung eines Maximalalters zu regulieren. Wenn es wesentlich mehr alte Menschen gäbe, so argumentiert John Harris, müsste man den Nachwuchs eindämmen. Anti-Aging-Strategien seien aber nur dann möglich, wenn auch Fortpflanzung weiter möglich ist. Es würde allein das Wissen darum, bald sterben zu müssen, obwohl es aus “natürlichen” Gründen noch nicht nötig wäre, bei vielen Menschen extremen Widerstand provozieren. Zu sterben, ohne sterben zu “müssen”, wäre unvorstellbar. Und wie wäre ein „enhanceter“ Tod überhaupt vorstellbar? Wäre es ein plötzlicher Tod, ohne Ankündigung und Zeit sich auf ihn vorzubereiten, dafür aber einer, der schmerzfrei eintritt?
Um größere soziale Ungleichheit zu verhindern, erschiene es wichtig, den Zugang zu den Verbesserungen für möglichst viele Menschen zu ermöglichen. Der Zugang könnte also zu einem allgemeinen Menschenrecht gemacht werden. Wenn nun der Tod aber etwas ist, das wir nie endgültig überwinden werden können, dann erscheint das Problem einer beliebigen Verlängerung als weniger entscheidend als die Frage nach den Bedingungen eines gelingenden, glücklichen Lebens. Denn vielleicht ermöglicht ein längeres Leben auch, mehr Glück zu erfahren. Wir verbinden eine gewisse Dauer des Lebens mit der Vorstellung von einer gerechten Chance, gewisse Dinge erlebt zu haben. Andererseits jedoch erscheint der Gedanke absurd, das Glück des Lebens hinge vor allem von seiner Dauer ab. Und ebenso wenig würde ein unglückliches Leben allein schon durch seine Verlängerung verbessert. Es könnte unter psychologischen Gesichtspunkten gerade klug sein, das Ende sich selbst zu überlassen, das heißt, den Tod „schicksalshaft“ oder „natürlich“ zu belassen. Jedes realhistorische Durchschnittsalter hat immer schon – selbst bei einem Durchschnittsalter von nur 50 Jahren vor 200 Jahren – ein Verständnis von gelungenem Lebens ermöglicht, unabhängig davon, wie hoch es in Lebensjahren tatsächlich ausgefallen sein mag. Die Frage, was glückliches Leben sei, würde daher aller Voraussicht nach durch Lebenszeitverlängerung ebenso wenig beantwortet und schon gar nicht gelöst werden.
Vielmehr könnte eine weitere, negative Konsequenz extremer Lebensverlängerung in der unendlichen Langeweile und Apathie bestehen, die uns beschleichen würde, wären wir z.B. im Stande, alles stets hinausschieben. Die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und Dinge zu tun, stammt sicherlich auch aus einem existentiellen Druck und einer Art von Verständnis der Begrenztheit des Lebens. Fiele dies weg, könnten wir alles rückgängig machen, nichts wäre mehr bedeutsam. Für viele Menschen könnte es auch schwer sein, einen Tod zu akzeptieren, dem nicht eine Zeit der Krankheit oder der Gebrechlichkeit vorausgeht. Es sind besonders diese Krisen, die zur Frustration und Erbitterung führen, für die der (absehbare!) Tod ein willkommenes Ende der Qualen bedeuten kann.
Ein weiterer, philosophisch interessanter Aspekt in Bezug auf die Diskussion um die technologisch ermöglichte Lebensverlängerung betrifft die Frage nach unseren Lebensentwürfen, unseren Zielen, in deren Rahmen viele Handlungen erst Sinn und Bedeutung bekommen. Wären die meisten von uns im Stande mit mehr Lebenszeit umzugehen, Veränderungen zu bewältigen, sie in ihre Konzepte des Lebens zu integrieren? Im Laufe der Ontogenese hat sich sowohl die Lebensdauer erheblich verlängert, als auch die Ausgestaltung des Lebens immer weiter ausdifferenziert, so dass auch nach einer durch Enhancement ermöglichten Verlängerung des Lebens eine weitere Anreicherung des Lebens mit Aufgaben und Interessen vorstellbar ist. Ganz wesentlich erscheint dabei die Vorstellung, bestimmte Ziele auch erreichen zu können. Wenn das möglich ist, ist eine beliebige Anzahl an Entwicklungsetappen denkbar. Aus einer anderen Perspektive stellt sich aber die Frage, ob die der menschlichen Existenz innewohnende Zufallsanfälligkeit oder Unbeeinflussbarkeiteiniger Ereignisse mit diesen Anwendungen des Enhancements weiter abgemildert werden kann und werden soll. Oder geht mit dem Enhancement aufgrund der rationalisierten Planung und Strukturierung des Lebens eine Entwicklung zu immer ähnlicheren Lebensentwürfen z.B. der Leistungsorientiertheit einher, die einer Vielfalt letztlich abträglich ist?
Auch in Bezug auf die Vorstellungen von Sterblichkeit stellen sich weitere Fragen wie z.B., was mit denjenigen geschieht, die ihr Leben als erfüllt und beendet empfinden oder es aufgegeben haben? Kann Leben auch zu einem Zwang werden, wenn es zu einer Pathologisierung von Lebensmüdigkeit kommt? Und würde nicht das Altern selbst, wie schon weiter oben angedeutet, bald als Krankheit verstanden werden, die es zu bekämpfen gilt? Einiges spricht dafür, dass die Sterblichkeit des Menschen zu einem medizinischen Gegenstand wird, sobald das Altern von einem unhintergehbaren Schicksal zu einem zu therapierenden Zustand wird. Entsteht nicht die Frage nach den Problemen des Alterns erst durch die gesellschaftliche Konstruktion des Alters als Krankheit? Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller – entgegen dem Versprechen vieler Enhancements – die Probleme nicht als Probleme oder Wünsche des Einzelnen zu betrachten, sondern darin vielmehr eine Herausforderung für die Allgemeinheit zu sehen – in diesem Fall etwa, dieser Umdeutung des Todes entgegen zu wirken. Sicherlich wird sich dies als außerordentlich schwierig erweisen in einer Lebenswelt der Individualisierung und des Wettbewerbs. Häufig erscheinen die technischen Errungenschaften und darin implizierten Imperative bereits zu moralischen Imperativen geworden zu sein. Auf den Wandel moralischer Einstellungen kann hier natürlich nicht eingegangen werden.
Ein interessanter Beitrag wider die endlose Verlängerung des Lebens wird von Hans Jonas in „Das Prinzip Verantwortung“ formuliert: Jonas beschreibt dort die menschliche Sterblichkeit als Segen. Der einzelne würde durch ein wesentliches Verlängern seiner Lebenszeit den Bezug zu seiner konkreten Vergangenheit und damit zu seiner identitätsstiftenden Geschichte verlieren oder aber derart stark in seiner Geschichte leben, dass er sich keine Gegenwart schaffen könne. Ähnlich argumentiert der kanadische Philosoph Walter Glannon: Durch eine extreme Lebensverlängerung bestehe die Gefahr, dass mentale Zustände, zwischen denen 200 Jahre liegen könnten, zu schwach verknüpft werden, um von einer Person auf sich selbst bezogen werden zu können. Daraus wiederum könnte keine notwendige Sorge für die jeweils eigene Zukunft erwachsen und somit letztlich die Bildung einer Identität verhindert werden.